Indisch-russische Atomdiplomatie

Bei seiner Moskaureise wollte der indischen Premierminister Manmohan Sing weitere Vereinbarungen zur Lieferung von Atomkraftwerken unterzeichnen. Gerne hätte er mit Putin den Beginn der Stromproduktion des ersten russischen Atomkraftwerkes in Indien gefeiert. Aus beidem wurde nichts. Das sind nicht nur gute Nachrichten. Denn die Sicherheit der Menschen in Südindien wird für diplomatische Worthülsen aufs Spiel gesetzt.

Eine Vereinbarung zur Lieferung von zwei weiteren Atomkraftwerken (Kudankulam 3 und 4) scheiterte nach Presseberichten an „ein oder zwei Worten”. Das Atomkraftwerk Kudankulam produzierte nicht einmal für zwei Stunden Strom.

Kudankulam 1 wieder in der Testphase

Der neue Schrottreaktor Kudankulam 1 konnte nicht wie geplant rechtzeitig zum Treffen der Staatschefs Putin und Singh am Montag, 21.Oktober 2013, mit einer Leistung von 300 MW ans Netz gehen. Aus der erhofften „Erfolgsmeldung” wurde eine halbherzige Ankündigung Putins, das AKW werde wohl „in einigen Stunden” Strom liefern.

Und tatsächlich ging der erste Block am Dienstagmorgen ans Netz.

„Der erste Block des Kernkraftwerkes Kudankulam (KKNPP) wurde am 22.10.2013 um 2:45 Uhr mit dem Netz synchronisiert und erzeugt 160 MW. Die Produktion wird stufenweise auf 500 MW, 750 MW und 1000MW gesteigert. Auf jeder Stufe werden verschiedene Tests durchgeführt und technische Parameter überprüft. Auf der Grundlage der Testergebnissen auf jeder der Stufen und mit Freigaben der Atomaufsichtsbehörde (AERB) werden die folgenden Stufen erreicht.” (Presserklärung der staatlichen AKW-Betriebsgesellschaft NPCIL)

So glatt lief und läuft es in Wirklichkeit nicht. Nach nicht einmal zwei Stunden, um 4:35 h, lieferte das AKW keinen Strom mehr, sondern zog Strom aus dem Netz. Ein Netzbetreiber meldete „abgeschaltet wegen Rückleistung” („tripped due to reverse power”). Die AKW-Betriebsgesellschaft NPCIL sprach dagegen im Nachhinein von einer geplanten Abschaltung, der Betrieb werde am Mittwochabend, bzw. Donnerstag früh wieder aufgenommen. Der Atomgegner P.K.Sundaram bezeichnet das Ganze als Farce.

Der Reaktor produzierte dann laut NPCIL am Freitagabend wieder Strom. Nach Informationen der Atom-GegnerInnen in Kudankulam bekamen die Netzbetreiber davon aber nichts mit. Presseberichten zufolge lieferte das AKW am Samstag „im Testbetrieb” wieder Strom. Durchschnittlich 165 MW sagte die Netzgesellschaft, über 210 MW behauptete die NPCIL.

Der Termin für einen Volllastbetrieb bleibt unklar, von „bald” bis „in einigen Monaten” reichen die Ankündigungen. Auf der NPCIL-Webseite wird noch heute, 27.10.2013, der November 2013 als Datum des Betriebsbeginns für den ersten Block genannt, und der Juni 2014 für den zweiten Block. Beide AKWs werden in der Rubrik „im Bau” und nicht in der Rubrik „in Betrieb” gelistet.

Nach Berichten aus Bangalore rechnet der Bundesstaat Karnataka auch im Sommer 2014 noch nicht mit Stromlieferungen aus Kudankulam im benachbarten Bundesstaat Tamil Nadu.

Versuch und Irrtum mit kritischen Reaktor

Der Reaktor wurde bereits am 13.Juli kritisch. Danach wurde er mehrfach herauf- und wieder heruntergefahren. Versuch und Irrtum. Dieses Prinzip gilt auch für die Stromerzeugung und die Netzanbindung. Die für August angekündigte Stromproduktion scheiterte wegen defekter Komponenten – meist werden irgendwelche Ventile genannt. In Kudankulam wurden Komponenten aus minderwertigem Stahl verbaut, auch der Reaktorkessel und die Verkabelung sind nach Auskunft von Kritikern fehlerhaft. Obwohl die NPCIL die Existenz von technischen Problemen bestätigte, unterblieb bislang jegliche Information über Lösungen – das meldet selbst die atomfreundliche FirstPost. Die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes wurde schon mehr als zwanzig mal angekündigt, ebenso oft wurde sie verschoben. Dieses Spiel wird wohl weiterhin gespielt werden – jetzt aber mit einem kritischen Reaktor.

Noch keine Verträge für weitere AKWs

Nicht die indische Seite verweigerte die Zustimmung zur Lieferung weiterer Atomkraftwerke nach Kudankulam, etwa wegen der Probleme bei den bereits gelieferten Reaktoren. Diese sollten eigentlich schon seit 2007 Strom liefern. Nein, die russische Seite verweigerte die Unterschrift, das Vertragswerk schütze die russischen Lieferanten nicht ausreichend vor Schadensersatzansprüchen im Falle einer nuklearen Katastrophe.

Das indische Atomhaftungsgesetz von 2010 sieht vor, dass AKW-Lieferanten unter bestimmten Umständen im Katastrophenfall mit bis zu 300 Mio. Dollar in Regress genommen werden können. International üblich ist die alleinige Haftung des AKW-Betreibers, in Indien des staatlichen Unternehmens NPCIL. Die Anpassung an die internationalen Gepflogenheiten im Atomgeschäft fordert nicht nur die russische Rosatom, auch Westinghouse, General Electric und Areva scheuen die Verantwortung für ihre AKWs.

Die indische Regierung hat dafür großes Verständnis und sucht seit 2010 nach einer Lösung. Die neueste Variante sieht vor, dass Atom-Lieferanten ihr Haftungsrisiko bei einer indischen, staatlichen Versicherungsgesellschaft absichern können. Es ist sogar die Rede davon, dass die Prämien zurück gezahlt werden, falls es zu keiner Katastrophe kommen sollte. Den russischen Lieferanten scheint diese Variante zu gefallen, sie muss nur noch juristisch wasserdicht formuliert werden. Das bedeutet zwar formal, dass der indische Staat indirekt alleine haftet, die Leidtragenden sind aber die von einer Katastrophe betroffenen Menschen. Die Opfer der Gas-Katastrophe in Bhopal kämpfen noch heute um finanzielle Entschädigung und medizinische Versorgung.

Wenn demnächst wirklich Verträge zu Kudankulam 3 und 4 abgeschlossen werden, dann ist der Weg frei nicht nur für Kudankulam 5 und 6, sondern auch für Areva in Jaitapur, Westinghouse in Mithi Virdi und General Electric in Kovvada.

Ersatz für Haripur

Beim Gipfeltreffen in Moskau sicherte Manmohan Singh der russischen Seite einen weiteren Standort für mehrere AKWs zu. Falls Haripur in West-Bengalen nun doch nicht geeignet sei, werde ein anderer gesucht. In Haripur hatte der Widerstand der lokalen Bevölkerung bereits 2011 für die Aufgabe der AKW-Pläne gesorgt. Singhs Äußerungen in Moskau sorgten nicht nur bei den Parteien West-Bengalens für helle Empörung, für den Fall des Falles kündigten AKW-GegnerInnen neue Proteste an.

Keine Öffentlichkeit für Proteste in Kudankulam

Anlässlich der Moskaureise des indischen Premiers demonstrierten die Atom-GegnerInnen in Kudankulam gegen die Atompläne der Regierung. Sie forderten auch die Abschaltung des ersten Reaktors. Die meisten indischen Medien verschweigen die Proteste in Kudankulam. Die Verlautbarungen der Atomlobby beten sie dagegen kritiklos nach.

Erhöhte Aktivität der Atomdiplomatie vor den Wahlen

Manmohan Singh scheint bei seinen letzten Auslandsreisen größtmöglichen Schaden anrichten zu wollen. Als Gegenleistung für die Aufhebung des Nuklearembargos im Jahre 2008 hatte die Singh-Regierung den USA, Frankreich und Russland den Import von Atomkraftwerken zugesagt. Nach einer Stagnationsperiode infolge des Atomhaftungsgesetzes von 2010 kam in den letzten Monaten wieder Bewegung in die Atomdiplomatie.

Im Anschluss an Singhs USA-Reise im September 2013 wurde ein erster Vertrag für den Bau von Westinghouse-AKWs in Mithi Virdi unterzeichnet. Die USA drängen auf Beschleunigung der Landenteignungen in Kovvada für General-Electric-AKWs. Verträge mit russischen Lieferanten sollen noch zu Singhs Amtszeit abgeschlossen werden. Auch Areva will für Jaitapur noch Singhs Amtszeit nutzen. In Indien wird nächstes Jahr gewählt. Ein Teil des politischen Personals wird ausgetauscht werden. Fürchten die Atom-Lieferanten um ihre Investitionen, fordern sie jetzt bereits bezahlte Gegenleistungen ein? Oder sollte der Atomsektor von der weit verbreiteten Korruption ausgenommen sein? Dafür spricht nichts.