Indische Adivasi an der Narmada sollen zum zweiten Mal vertrieben werden – diesmal für ein Atomkraftwerk

von Kumar Sundaram

Das geplante Atomkraftwerk von Chutka im überwiegend von Ureinwohnern bewohnten Landkreis Mandla in Zentralindien wird hunderte Menschen zum zweiten Mal vertreiben und die Auswirkungen des Klimawandels verschärfen. Gegen dieses Unrecht und die Bedrohung ihrer Sicherheit und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen haben die DorfbewohnerInnen einen entschlossenen und erbitterten, doch gewaltfreien Kampf aufgenommen.

Als im Juli 2017 Ingenieure des staatlichen AKW-Betreibers NPCIL (Nuclear Power Corporation India Limited) das Dorf Chutka aufsuchten, um Proben für die Untersuchung des Baugrunds zu entnehmen, versammelten sich schnell dutzende Frauen und verjagten  die Ingenieure.

Außerdem stellten sie die komplette Ausrüstung der Geologen sicher. Diese ist noch heute im Dorf gelagert. Die 46-jährige Sakhu berichtet: „Sie sind gekommen, um uns aus dem Dorf zu vertreiben. Nachdem sie uns vor mehr als 30 Jahren aus dem Tal vertrieben hatten, haben wir unser Leben hier mühsam wieder aufgebaut. Unten ist nun alles überflutet. Wir haben den Wald gerodet und unsere Häuser gebaut. Ich bin hier aufgewachsen, auch meine Kinder wachsen hier heran. Als der Staudamm kam, mussten wir selbst für uns sorgen. Und jetzt versprechen sie uns wieder bezahlte Arbeit, Land und Entwicklung. Ich glaube denen nichts!“ Die Spuren der Vertreibung und die Furcht davor, erneut entwurzelt zu werden, sind in den Gesichtern aller Menschen im Dorf zu erkennen. Die meisten Familien gehören zu der ethnische Gruppe der Gond. Wegen des Bargi-Dammes, der zwischen 1974 und 1990 gebaut wurde,mussten sie ihre Dörfer im Tal verlassen und in die Berge fliehen. Sie wurden gewaltsam aus ihren angestammten Dörfern vertrieben, wo sie seit Jahrhunderten gelebt hatten. Als „Entschädigung“ erhielt nur ein Teil der Vertriebenen 500 Rupien pro Morgen Land (umgerechnet etwa 25 Euro pro Hektar). Nach Angaben der Behörden waren die Berechnungen der Ingenieure nämlich nicht ganz genau gewesen: Zusätzlich zu den errechneten 100 Dörfern wurden überraschend weitere 62 Dörfer überflutet. Die Bewohner dieser 62 Dörfer erhielten keinerlei Entschädigung.

So war es wenig überraschend, dass die offizielle Ankündigung der AKW-Pläne im Jahre 2008 auf hartnäckigen Widerstand der lokalen Bevölkerung stieß. Die vier geplante 700-MW-Reaktoren Atomanlage sollen mit Wasser aus dem Stausee gekühlt werden. Die Behörden ignorierten alle Beschlüsse gegen das Projekt, die die gewählten Dorfräte (Panchayats) einstimmig verabschiedet hatten. Kompensationszahlungen wollte niemand annehmen. Dennoch überwiesen die Behörden aufaddierte Entschädigungen für Land, Bäume, Tiere und Gebäude auf persönliche Konten. Die Bankdaten der Zahlungsempfänger hatten sie sich mit einer Täuschung erschlichen. Einige Monate zuvor hatten staatliche Stellen Kontonummern der Bewohner erfasst, angeblich für die Umsetzung des Regierungsprogramms für die Versorgung mit Gas für das Kochen. Selbst reichere Einwohner wie Dadulal Kudape haben das Geld (mehr als 10 Millionen Rupien, bzw. 130.000 Euro) nicht angefasst, das plötzlich auf ihrem Konto auftauchte. Dadulal Kudape will lieber im Kampf gegen den mächtigen Staat in seinem Dorf sterben als das Geld anzunehmen. Kein Geld der Welt könne den Verlust von Land und des Lebens in der Dorfgemeinschaft wettmachen.

Anfang der 90er Jahre kam Rajkumar Sinha als junger Graswurzelaktivist im Sinne Gandhis aus dem Bundesstaat Bihar in die Gegend von Chutka. Er blieb bis heute. Rajkumar fasst die kollektiven Erfahrungen der Menschen folgendermaßen zusammen: „In den letzten dreißig Jahre war auf der einen Seite eine endlose Geschichte von absoluter Rücksichtslosigkeit seitens der Regierung mit ihrer Besessenheit von der sogenannten ‘Entwicklung’, auf der anderen Seite aber diese bewundernswerte Widerstandskraft der einfachen Menschen, die sie unter unsäglichem Leid ständig unter Beweis stellen.“ Mit der „Organisation der vom Bargi-Damm Vertriebenen“ mussten die Gemeinschaften der Region fast zwei Jahrzehnte lang um den Bau ihrer Häuser kämpfen, da sie nach dem Gesetz in den Wäldern, in die sie geflüchtet waren, als illegal galten. Sie mussten auch lange kämpfen, um im Wassereinzugsbereich des Stausees Landwirtschaft betreiben zu dürfen. Im Laufe dieses Kampfes lernten sie auch, Genossenschaften zu bilden, um kollektiv ihre Fischereiprodukte zu vermarkten und so der erdrückenden Kontrolle durch Fischereiunternehmen zu entkommen.

Am 12.Dezember 2017 erreichte eine zehnwöchige Protestkampagne in der Region Chutka einen neuen Höhepunkt. Vor der Verwaltungsbehörde des Kreises Mandla versammelten sich 2.500 Menschen aus Chutka und anderen Dörfern in der 30-Kilometer-Zone um das geplante AKW. Die Kampagne hatte am 2. Oktober begonnen, dem 148. Geburtstag von Mahatma Gandhi. Aktivisten zogen von Dorf zu Dorf, um überall Versammlungen gegen das AKW abzuhalten. Dabei nahm die Zahl der Teilnehmenden in jedem Dorf zu.

Protest vor der Kreisverwaltung in Mandla am 12. Dezember 2017

Kriminelle Missachtung der Auswirkungen auf Umwelt und Menschen

Chutka ist ein Dorf im Kreis Mandla des Bundesstaats Madhya Pradesh, umgeben von reicher Biodiversität, dichten Wäldern, malerischen Hügeln und wunderschönen Gewässern. Aber auch außerhalb der drei Dörfer Chutka, Tatighat und Kunda, die unmittelbar evakuiert werden müssen, verlieren tausende Menschen, die Landwirtschaft und Fischerei betreiben, ihre Lebensgrundlagen. Sie fischen in Teilen des Stausees und in der Trockenzeit kultivieren sie Landstreifen bis der Wasserstand wieder ansteigt. Diese Gebiete werden künftig in einer streng bewachten Schutzzone liegen, die rund um die AKW-Blöcke errichtet werden soll. Außerdem wird das erhitzte Kühlwasser der Reaktoren zurück in das Reservoir geleitet und erhöht dort die Wassertemperatur um 3 bis 5 Grad Celsius, so dass Fischerei und Aquakulturen ringsum nicht mehr möglich sein werden. Diese Fakten kommen im Umweltverträglichkeitsbericht von 2014 nicht vor, der vom „Nationalen Energie-und Umweltforschungsinstitut“ (NEERI) in Nagpur erstellt wurde. Das NEERI ist für Gefälligkeitsgutachten unter Ausblendung existentieller Fakten bekannt, da es routinemäßig Megaprojekten der Regierung oder der Privatwirtschaft die ökologische Unbedenklichkeit bescheinigt. Die Bäuerinnen und Bauern rund um Chutka ernten mindestens dreimal im Jahr Hirse, Ölsamen und Mais – und das auf Land, welches der Umweltverträglichkeitsbericht als unfruchtbar deklariert hat. Erstaunlicherweise wurde der Bericht nur für die beiden Reaktoren der ersten Bauphase erstellt. Danach wird separat ein weiteres Gutachten die ökologische Verträglichkeit der nächsten beiden Reaktoren bestätigen. In Indien gibt es kein System für die Gesamtabschätzung der Auswirkungen aller Projekte zusammengenommen. In der Nähe von Chutka, um den Bargi-Stausee herum sollen auch fossile Kraftwerke und andere Industrieanlagen erstellt werden. Der Umweltminister der alten indischen Regierung hatte schließlich eingestanden, dass die etablierte Form der Bewertung von Umweltauswirkungen bei Bauprojekten ein Witz sei. Die neue Regierung unter BJP-Regierungschef Modi sieht nun im Umweltministerium eine Institution, die wirtschaftliche Projekte aktiv fördern soll.

Dazu kommen noch die berechtigten Sorgen über Auswirkungen des Klimawandels und des sinkenden Wasserstandes der Narmada in 30-40 Jahren, wenn das Atomkraftwerk erst seine halbe Laufzeit erreicht haben wird. Das AKW wird gemeinsam mit den in der Region schnell wachsenden Industrien um die knappen Wasserressourcen kämpfen. Sie werden dort mit den Gemeinden um Wasser konkurrieren. Die Stadt Jabalpur etwa entnimmt ihr Trinkwasser dem Bargi-Stausee. Die Trinkwasserversorgung ist natürlich auch durch einen AKW-Unfall gefährdet. Die Bewohner des Bundesstaates Madhya Pradesh können sich gut an die Katastrophe von Bhopal erinnern. In Bhopal,. der Hauptstadt von Madhya Pradesh, kämpfen die Opfer der Giftwolke auch nach Jahrzehnten immer noch für Gerechtigkeit und um Entschädigungen.

Laut Gesetz ist das Umweltverträglichkeitsgutachten von einer lokalen öffentlichen Anhörung abzusegnen. In Chutka traf die Anhörung vor Ort auf starken Widerstand. Im Jahre 2013 musste die Lokalverwaltung die Anhörung zweimal wegen des Protestes der Betroffenen abbrechen. Schließlich inszenierten die Behörden 2014 ein makabres Schmierentheater, als sie tausende Polizisten und Paramilitärs mobilisierten, um nur Ausgewählte zuzulassen. Nachdem sie bei der brutalen Unterdrückung ihrer demokratischen Rechte zusehen mussten, reisten Adivasi aus Chutka am 4. März 2014 nach Delhi, wo sie vor dem Bundesparlament ihren Protest deutlich machten. Seither sind die Proteste ohne Unterbrechung weitergegangen. Von Oktober bis Dezember 2017 organisierten AktivistInnen eine „Yatra“, eine Aufklärungs- und Aktivierungstour durch alle 275 Dörfer der Region, die im Gutachten genannt wurden. Den Abschluss bildete die oben schon erwähnte Demonstration am 12.Dezember. Die Aktivistinnen und lokalen Gemeinschaften setzen alles daran, regional, aber auch weltweit gehört zu werden.

Das Beispiel Chutka zeigt uns, wer bei den offiziellen Diskursen zum Klimawandel ignoriert wird, nämlich tausende Menschen aus Fleisch und Blut, die alle langfristigen Auswirkungen der wechselnden Entscheidungen von Regierungen und internationalen Abkommen ertragen müssen. Die Misere der indigenen Gemeinschaften von Chutka zeigt, warum großer Wasserkraftwerke wie auch Atomkraftwerke unrecht sind.

Dem falschen Anspruch, mit Atomkraft Klimawandel und Armut zu bekämpfen, halten die Frauen, Kinder, Bauern und Fischer aus Chutka nur eines entgegen: „Nicht in unserem Namen!“.

Die Bewegung gegen das AKW Chutka wird sich bestimmt über Zeichen der Solidarität aus dem fernen Deutschland freuen (Beispiele zu Kudankulam bzw. Idinthakarai hier und dort, oder hier  und dort oder eine Postkarte oder …). Post- und Emailadresse  bekommt Ihr bei indien@antiatom.net.

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