Das Atomleck in Kakrapar ist ernster als die indische Regierung zugibt

von Kumar Sundaram am 14.3.16

Vor drei Tagen wurde ein Leck im Primärkreislauf des erste Blocks des Atomkraftwerks Kakrapar (KAPS) im indischen Bundesstaat Gujarat gemeldet. Seither gaben weder der Betreiber NPCIL (Nuclear Power Corporation of India Ltd.) noch die Regulierungsbehörde für Atomenergie (AERB) einen aktualisierten  Stand bekannt. In der Presseerklärung vom 11.März 2016 teilte die NPCIL mit, es gäbe keine Freisetzung von Strahlung und alle Arbeiter seien sicher.

Verblüffende Geheimnistuerei

Wir wissen, dass am späten Freitagnachmittag der Notfall für das AKW-Gelände von Kakrapar erklärt wurde, während der Unfall selbst bereits gegen 9:00 Uhr morgens begann. Wir wissen nicht, ob der Notfall aufgehoben wurde und sich die Situation normalisiert hat. Herr B.C. Patni, Landrat des Distrikts Tapi, teilte dem Autor mit, dass er nicht wisse, ob der Notfall für die Anlage noch gelte. Verwaltungstechnisch befindet sich der Reaktor im Distrikt Surat, doch die naheliegenden bewohnten Gebiete gehören überwiegend zum Distrikt Tapi. Landrat Patni erklärte, seine letzten Informationen seien vom Samstagnachmittag, und am Sonntag hätte er nichts Neues erfahren. Herr Patni sprach davon, dass ein Team der Atombehörde Wasser- und Bodenproben genommen  und diese zur Strahlenmessung versandt habe. Wir wissen nichts vom Zustand der Arbeiter des AKWs, besonders von denen der betroffenen Frühschicht. Das einzige was wir haben, sind bloße Zusicherungen seitens der Verantwortlichen des AKW, die Radioaktivitätsmessungen seien „nicht abnormal hoch“.

Wenn sie den internationalen Regelungen gefolgt wäre, hätte die NPCIL einen Krisenstab einrichten müssen unter Beteiligung der lokalen städtischen Verwaltung sowie Medien- und Bürgergruppen. Eine Weitergabe der neusten Meldungen, einschließlich Messwerten der Strahlung im und um das Reaktorgebäude, von Erkenntnissen der laufenden Inspektion und vom Zustand der Arbeiter, hätte durch die NPCIL erfolgen müssen, sowohl um die Lage entsprechend zu handhaben als auch um unberechtigte Annahmen und Spekulationen zu vermeiden. Der Autor dieses Beitrags sprach telefonisch mit dem Landrat des Distrikts Surat, doch der äußerte nur, dass er der offiziellen Presserklärung nichts hinzuzufügen hätte.

Nach neusten Meldungen erklärten die Verantwortlichen der Anlage, dass die genaue Ursache des Lecks noch festgestellt müsse. Der gegenwärtige Vorsitzende der Regulierungsbehörde für Atomenergie (AERB), die die nukleare Sicherheit in Indien überwacht, teilte der Presse mit, dass „das Ausmaß des Versagens des Kühlsystems signifikant“ sei.

Normalen Bürgern ist es in Indien sogar verboten, mit Geigerzähler die Strahlung zu messen. Dafür führen die Behörden „Gründe der nationalen Sicherheit“ an. Das ist wirklich ungeheuerlich, denn weltweit ist es für Bürger normal, die Strahlung zu messen um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Selbst nach der Trennung von zivilen und militärischen Anlagen nach dem indisch-amerikanischen Atomabkommen von 2005 genießt die indische Atomindustrie weiterhin Schutz vor öffentlichen Nachfragen.

Ehemaliger Chef der Atomsicherheit schlägt Alarm
Dr. A. Gopalakrishnan, der die Regulierungsbehörde für Atomenergie (AERB) von 1993 bis 1996 leitete, äußerte gegenüber dem Autor, dass die Lage in Kakrapar ernster sein könne, als uns gesagt wird. Unter Betonung der Ernsthaftigkeit der Situation hat Dr.Gopalakrishnan einen dringenden Aufruf verschickt,  der auf der atomkritischen Website  Dianuke.org dokumentiert ist. Darin warnt Dr. Gopalakrishnan:

„Einige Berichte deuten darauf hin, dass der Sicherheitsbehälter des Reaktorgebäudes mindestens einmal, wenn nicht häufiger, in die Atmosphäre hinaus entlüftet wurde, was vermutlich auf die Tendenz zum Druckaufbau in dem umschlossenen Raum aufgrund der Freisetzung von heißem Schwerwasser  und Wasserdampf  im Sicherheitsbehälter hinweist. Wenn das stimmt, dann ist das Leck nicht  klein, sondern mittelgroß, und besteht weiterhin. Niemand bestätigt, dass irgend jemand in Sicherheitskleidung den Sicherheitsbehälter für eine schnelle physische Abschätzung der Lage betreten hat, vielleicht ist es dafür aufgrund der hohen Strahlenwerte darin nicht sicher genug… All dies deutet darauf hin, dass sich der Block 1 des AKW Kakrapar in einem weiterhin andauernden Fall von Kühlflüssigkeitsverlust (Loss-of-Coolant Accident, LOCA) befindet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine oder mehrere Druckröhren im Reaktor, die die Brennstoffbündel enthalten, gebrochen sind, so dass heißes Schwerwasser aus dem primären Kühlkreislauf in den Sicherheitsbehälter austritt.“

Kakrapar hat eine Geschichte von Unfällen
Seit seiner Inbetriebnahme 1993 gab es eine Reihe von Unfällen im Atomkraftwerk Kakrapar, einschließlich eines größeren Unfalls 1994, als der Reaktor geflutet wurde und Wasser in das Reaktorgebäude eindrang und es unter Wasser setzte. Die Fluttore zum Ablassen überschüssigen Wassers konnte nicht geöffnet werden und der Wasserstand stieg, was zu einem größeren Zwischenfall führen hätte führen können. Dank dem unermüdlichen Einsatz der Mitarbeiter der Anlage konnte Schlimmeres verhindert werden. Ein Mitarbeiter des AKW, Herr Manoj Mishra, berichtete als Whistleblower von dem Unfall und wurde daraufhin vom Kraftwerksbetreiber NPCIL entlassen. Selbst vom Obersten Gerichtshof Indiens wurde ihm Gerechtigkeit verweigert, denn der übernahm das Argument der NPCIL, Manoj Mishra könne gar kein Whistleblower sein, da er nicht über technische Hochschulabschlüsse verfüge. Manoj Mishra hatte aber jahrelange Erfahrung mit dem Reaktor und er war ein starker Vorsitzender der Mitarbeitergewerkschaft.

Im Gespräch mit dem Autor berichtete Manoj Mishra, dass er geschockt war als am Freitag die Verantwortlichen des Kraftwerks den Notfall erst am Nachmittag ausriefen und eine Presseerklärung abgaben, nachdem die Menschen in der Gegend und besonders die Mitarbeiter bereits von dem Unfall wussten und dieser nicht mehr verschwiegen werden konnte. Nach seinen Angaben erfuhren die Behörden der Distrikte Surat und Tapi erst durch die Medien von dem Zwischenfall.

Einen schwerwiegenden Unfall gab es in Kakrapar 2004, als die Steuerungsstäbe während eines Wartungsvorgangs irreparabel beschädigt wurden. Ein ähnliches Leck von Schwerwasser, genau am 11. März 2011, führte zur Abschaltung der Anlage.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass Block 1 des AKW Kakrapar in Betrieb genommen wurde, ohne vorher sein Notkühlungssystem (Emergency Core Cooling System, ECCS) entsprechend zu testen, was erneut ernsthafte Fragen bezüglich der gegenwärtigen Krise aufwirft.

Der bekannte Arzt Dr. Sanghamitra Gadekar, der sich in der Anti-Atomorganisation Anumukti in Gujarat engagiert, ergänzt: „Als wir 1993 erfuhren, dass sie den Reaktor hochfahren ohne das ECCS zu testen, appellierten wir an Indiens Premierminister, an den Ministerpräsidenten von Gujarat und andere Autoritäten, sie sollten die Inbetriebnahme anhalten. Damals führte auch Mahadey Desai, ein Veteran gewaltfreien Engagements, einen fünftägigen Hungerstreik durch.“

Verantwortungslosigkeit und Intransparenz müssen aufhören
Das indische Atom-Establishment verhält sich extrem verschlossen, im Vergleich zu seinen internationalen Kollegen. Als die lokale Bevölkerung an der AKW-Baustelle Kudankulam grundlegende Dokumente verlangte, wie den Bericht des Standort-Auswahlkomitees oder den Bericht zur Sicherheitsprüfung, lehnte das die NPCIL rundweg ab. Die Menschen schrieben auch einen Brief an den Premierminister. Nach neusten Berichten hat  das Atomministerium (DAE) Änderungen des Recht-Auf-Information-Gesetzes (RTI act) verlangt, um das Atom-Establishment auszunehmen.

Es herrscht völliges Schweigen zum Bericht des Obersten Rechnungsprüfers über die Unabhängigkeit und Effizienz der  Regulierungsbehörde für Atomenergie (AERB) sowie zu den Fragen, die vom Parlamentarischen Rechenschaftskomitee (Parliamentary Accounts Committee, PAC) zur atomaren Sicherheit in Indien nach Fukushima aufgeworfen wurden.

Wenn wir es ernst meinen mit der Sicherheit der indischen Bevölkerung, dann dürfen wir das gegenwärtigen Handeln des Atom-Establishments nicht länger dulden.

Nachtrag am 15.3.16 (P.M.):

Der Hindu berichtete heute: AKW-Beschäftigte hätten das Reaktorgebäude betreten und das Leck  bei den Zuführungsleitungen lokalisiert, eine von 306 sei gebrochen. Ein System nach dem anderen werde nun normalisiert. Schwerwasser habe sich mit normalem/leichtem Wasser vermischt. Dieses Gemisch werde jetzt zur Reaktorkühlung verwendet. Der Hindu referiert Auskünfte eines Personaldirektors bei der NPCIL.

Die World Nuclear News beziehen sich auf Auskünfte der Atomaufsichtsbehörde (AERB): Das Leck im Primärkreislauf sei bei Gruppe von Druckröhren  mit Brennstoff aufgetreten. Der Reaktor werde gekühlt und die Isolierung des Lecks werde vorbereitet, bzw. geplant. Gegenwärtige gebe es keine größeren Sicherheitsprobleme. Unabhängige Messungen in einem Umkreis von bis zu 20 km hätten keine erhöhte Hintergrundstrahlung oder Verseuchung ergeben. Dies bestätige, dass es zu keinen aussergewöhnlichen Freisetzungen gekommen sei.

Ergänzung am 16.3.16:

Die Atomaufsichtsbehörde AERB hat in einer auf den 14.3. datierten Mitteilung den Störfall vorläufig als INES 1 eingestuft. Die Tages-Grenzwerte für die Freisetzung von Radioaktivität seien eingehalten worden. Das Leck sei in einem Druckröhrenkühlkanal aufgetreten. Die Druckröhren seine 2011 getauscht worden.

Ein Blick in die PRIS-Datenbank zeigt, dass Kakrapar 1 in den Jahren 2009 und 2010 überhaupt keinen Strom geliefert hat. Warum das AKW so lange ausfiel ist nicht bekannt.

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